Isaak Zeitin mit Eltern und Schwester


Stolperstein von Isaak Zeitin

Kurzbiografie:

  • Geboren am 14. November 1910 in Mainz
  • Am 25. Juni 1941 nach Hadamar deportiert und gleich nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet

Die Ermordung im Rahmen der NS-‚Euthanasie‘

Während der nationalsozialistischen Diktatur wurden viele Menschen jüdischen Glaubens, Sinti*zze und Rom*nja, politisch Oppositionelle und Homosexuelle in Konzentrationslager deportiert und ermordet. Auch Menschen mit verschiedensten Arten von physischen und/oder psychischen Krankheiten, Einschränkungen oder auch Behinderungen gehörten für die Nationalsozialisten nicht zur sogenannten ‚Volksgemeinschaft‘ und wurden aufgrund dessen zwangssterilisiert und ermordet. Viele Menschen mit Behinderung wurden in Nerven- und Heilanstalten sowie Einrichtungen, in denen Menschen mit Behinderung lebten und versorgt wurden, ermordet. Nach der nationalsozialistischen ‚Rassenpolitik‘ galten diese Menschen als ‚nicht lebenswert‘. Diese Morde an Menschen mit Behinderung wurden mit dem Begriff der ‚Euthanasie‘ gerechtfertigt. Der Begriff kommt aus dem Griechischen und beschreibt eigentlich einen leichten und schönen Tod. Die Nationalsozialisten nutzten den Begriff der ‚Euthanasie‘, um die systematische Ermordung kranker und behinderter Menschen als ‚Gnadentod‘ zu verharmlosen. In der Realität aber versteckte sich hinter dem Begriff eine genauestens durchgeplante Tötungsaktion (Tarnbezeichnung: ‚Aktion T4‘). Neben der Ermordung im Rahmen der NS-‚Euthanasie‘ wurden aufgrund der nationalsozialistischen ‚Rassenpolitik‘ auch viele Menschen zwangssterilisiert. Am 14. Juli 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) beschlossen, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat. Aufgrund dieses Gesetzes wurden während der nationalsozialistischen Diktatur 380.000 bis 400.000 Männer und Frauen zwangssterilisiert, wobei etwa 5.000 Menschen infolge des operativen Eingriffes starben. Bereits Mitte der 1920er-Jahre war die Idee aufgekommen, ein sogenanntes „Sterilisationsgesetz“ zu verabschieden, wobei hier noch die Einwilligung der Betroffenen als Bedingung für diesen operativen Eingriff vorgesehen war. Im Nationalsozialismus konnten nun aufgrund des GzVeN Menschen zwangssterilisiert werden, die an folgenden ‚Krankheiten‘ litten: ‚angeborener Schwachsinn‘, Schizophrenie, zirkuläres und manisch-depressives ‚Irresein‘, erbliche ‚Fallsucht‘ (Epilepsie), erblicher ‚Veitstanz‘ (Huntingtonsche Chorea), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, erbliche körperliche Missbildung und Alkoholismus. Vor allem die erste Diagnose, ‚angeborener Schwachsinn‘, wurde häufig gestellt, um politische Gegner*innen als ‚krank‘ abzustempeln und diese in Nerven- und Heilanstalten einzuweisen. Das nationalsozialistische „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN), aufgrund dessen auch Isaak Zeitin zwangssterilisiert wurde, galt in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit nicht als ‚unrechtmäßiges‘ Gesetz, weswegen von dem Gesetz Betroffene nicht entschädigt wurden. Erst ab den 1980er-Jahren kam zwangssterilisierten Menschen eine einmalige Zahlung von 5.000 DM zugute. Ab 1988 erhielten die Betroffenen eine kleine Rente. Ein Jahr zuvor war der „Bund der ‚Euthanasie‘-Geschädigten und Zwangssterilisierten“ (BEZ) gegründet worden, in dem sich Betroffene für die Anerkennung des Erlebten einsetzen und auf die psychischen Folgen ihrer erzwungenen Kinderlosigkeit verweisen. Isaak Zeitin war kein typisches Opfer der ‚Euthanasie‘, da er jüdischen Glaubens war und Jüdinnen*Juden zumeist in Konzentrationslagern von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Mit der ihm gestellten Diagnose ‚Schizophrenie. Gefährdung der öffentlichen Ordnung‘ stufte man ihn als ‚erbkrank‘ ein, weswegen er zwangssterilisiert wurde. Ebenso wie die bereits erwähnte und oft gestellte Diagnose ‚angeborener Schwachsinn‘ muss auch Zeitins Diagnose ‚Schizophrenie‘ in Frage gestellt werden, da oftmals nur nach einem Grund gesucht wurde, um die betroffenen Menschen gezwungenermaßen zu sterilisieren und ermorden. Der Zusammenhang zwischen der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘ und dem ‚Holocaust‘ ist noch nicht gänzlich erforscht; einen wichtigen ersten Forschungsbeitrag leisteten hier aber die beiden Historiker Jan Erik Schulte und Jörg Osterloh, die 2021 das Buch „Euthanasie“ und Holocaust. Kontinuitäten, Kausalitäten, Parallelitäten herausgaben. Zur Geschichte der NS-‚Euthanasie‘, aber vor allem zu den Opfern aus Mainz und Rheinhessen hat das Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz eine Ausstellung konzipiert, zu der man hier gelangt.


Isaak Zeitin kam als jüngstes von vier Kindern der Familie am 14. November 1910 in Mainz zur Welt. Seine Eltern Chaim Ephraim (*26.12.1877) und Sara Zeitin, geborene Saffra (*28.10.1877), stammten aus dem damals weißrussischen Gomel, beziehungsweise aus Dwinsk, dem heute lettischen Daugavpils. Isaaks ältere Schwester Nechama (genannt Anna) war bereits am 18. Februar 1902 in Dwinsk geboren worden, bevor die Zeitins 1903 nach Mainz kamen. Vermutlich flohen sie vor dem zunehmenden Antisemitismus und den Pogromen in ihrer Heimat.

Isaaks Schwester Eva und sein Bruder Joseph waren 1903 und 1906 ebenfalls in Mainz geboren worden. Der Vater war als Toraschreiber tätig, so findet sich in den Mainzer Adressbüchern im Jahr 1904 der Eintrag „Zeitin, Ephraim, Zehngeboteschreiber, Steingasse 11“. Die Familie gehörte zum Israelitischen Humanitätsverein, in dem sich die aus Osteuropa geflohenen Jüdinnen*Juden versammelten und der einen eigenen Betsaal in der Margaretengasse 1 hatte. In diesem Gebäude wohnten die Zeitins ab 1914.

Es darf angenommen werden, dass alle Kinder der Familie die 1859 gegründete Unterrichtsanstalt der Israelitischen Religionsgesellschaft, die sogenannte Bondi-Schule, besuchten. Zumindest ist dies von Anna Zeitin bekannt, die 1908 dort eingeschult wurde. Isaak wurde nach Ende seiner Schulzeit Kaufmann.

Die Zeitins, die deutsche Staatsbürger*innen geworden waren, erlebten ab Februar 1934 die zunehmenden Repressionen des NS-Regimes: Ihre Einbürgerung wurde widerrufen und sie wurden, wie alle aus Osteuropa stammenden Jüdinnen*Juden, für ‚staatenlos‘ erklärt. Nach dem Abschluss seiner Ausbildung zum Kaufmann wurde der 23-jährige Isaak Zeitin am 5. Mai 1934 erstmals in die damalige Landes- Heil- und Pflegeanstalt Alzey eingewiesen zwecks Begutachtung hinsichtlich einer Zwangssterilisation nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) vom 14. Juli 1933. Nach diesem Gesetz, das im Januar 1934 in Kraft trat, wurden Menschen nach unhaltbaren Kriterien als vermeintlich ‚erbkrank‘ eingestuft, ohne ihr Einverständnis sterilisiert und am Ende in den ‚Euthanasie‘-Mordanstalten getötet. Die von den NS-Ärzten zu Isaak Zeitin gestellte Diagnose „Schizophrenie. Gefährdung der öffentlichen Ordnung“ muss daher hinterfragt und sehr kritisch betrachtet werden.

Auf Beschluss des ‚Erbgesundheitsgerichts‘ am Amtsgericht Worms vom November 1934 wurde Isaak Zeitin aus Alzey entlassen, um  noch im selben Monat im Wormser Stadtkrankenhaus zwangssterilisiert zu werden. Von dort kehrte er nach Mainz zurück. Jedoch schon mit der erneuten Einweisung nach Alzey im Juni 1935 begann für ihn ein Zwangsaufenthalt in mehreren Anstalten.

 Am 21. Dezember 1938, also nach der Pogromnacht, wurde er in das Landes-Alters- und Pflegeheim Heidesheim verlegt. Mit Kriegsbeginn wurde Heidesheim für Lazarettzwecke geräumt. So schickte man auch Isaak Zeitin im September 1939 mit einem Sammeltransport auf offenen Lastwagen erneut nach Alzey. Im Mai 1940 wurde er mit 50 Patient*innen in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Heppenheim verlegt, da auch die Anstalt in Alzey angesichts des Frankreichfeldzuges als Reservelazarett genutzt werden sollte. Auf einem Meldebogen vom 16. Juli 1940 aus Heppenheim ist für Isaak Zeitin „nicht zu beschäftigen“ vermerkt. Ende des Jahres 1940 kam er mit zehn weiteren Patient*innen erneut nach Heidesheim. Im Juni 1941 musste Isaak Zeitin mit 36 anderen, darunter fünf jüdische Patient*innen, in die Landesheilanstalt Eichberg im Rheingau wechseln, die als ‚Zwischenanstalt‘ für die Tötungsanstalt Hadamar galt. Vom Eichberg aus wurde Isaak Zeitin im Alter von 30 Jahren am 25. Juni 1941 mit 86 weiteren Menschen nach Hadamar verbracht und gleich nach der Ankunft in der dortigen Gaskammer ermordet und anschließend verbrannt. Isaak Zeitin wurde nur 30 Jahre alt. Die Lügen des NS-Regimes setzten sich im Familienregister der Familie Zeitin fort. Hier ist zu Isaak Zeitin vermerkt: „Staatenlos. Gest. 7.7.1941 in Hadamar-Mönchberg.“ Für die Opfer der ‚Euthanasie‘ wurden in Hadamar regelmäßig falsche Todesdaten und -gründe angegeben, so auch bei Isaak Zeitin. Laut Sterbeurkunde war er nicht am 25. Juni, sondern am 7. Juli gestorben. So konnten für ihn zwölf weitere Tage Pflegegelder abgerechnet werden. Isaak Zeitin erhielt ein einfaches Grab auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Mainz, weil die Familie es offenbar gewünscht hatte. Ob aber seine Asche in der Urne war, die die Familie übersandt bekam, muss bezweifelt werden. Bis auf den Bruder Joseph sind alle Mitglieder der Familie Zeitin deportiert und ermordet worden. Die Schwester Eva wurde, nachdem sie gemeinsam mit ihrem Mann Max Moses und ihrem Sohn Manfred 1942 deportiert worden war, in Sobibór ermordet. Die Eltern sowie die Schwester Nechama wurden vermutlich am 24. Mai 1942 von Frankfurt am Main nach Izbica deportiert und ermordet. Der Bruder Joseph wurde in der Pogromnacht des November 1938 verhaftet und am 12. November 1938 in das KZ Buchenwald deportiert, wurde dort jedoch am 17. Dezember wieder entlassen. Am 15. April 1939 gelang ihm an Bord der „Cesare“ die Flucht aus dem Deutschen Reich nach Shanghai. Dort lebte er, bis er 1947 in die USA übersiedelte, wo er anschließend in San Francisco und vermutlich als Rabbiner arbeitete.


Quelle: Arolsen Archives

Text: Renate Knigge-Tesche

Redaktionelle Bearbeitung: HdE



Literaturhinweise:

Aly, Götz: Die Belasteten. Euthanasie 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 2013.

Benzhöfer, Udo: Entwürfe für ein NS-„Euthanasie“-Gesetz (1939/1940), Ulm 2017 (= Frankfurter Studien zur Geschichte und Ethik der Medizin, Bd. 4).

Goebel, Christine/ Hocke, Michaela/ Pawelletz, Jörg (Hrsg.): „Lebensunwert“ – entwürdigt und vernichtet. Zwangssterilisation und Patientenmorde im Nationalsozialismus im Spiegel der Quellen des Landeshauptarchivs Koblenz. Begleitband zur Ausstellung, Koblenz 2017 (= Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 126).

Hedwig, Andreas/ Petter, Dirk (Hrsg.): Auslese der Starken – „Ausmerzung“ der Schwachen. Eugenik und NS-„Euthanasie“ im 20. Jahrhundert, Marburg 2017 (= Schriften des Hessischen Staatsarchiv Marburg, Bd. 35).

Hexemer, Hans-Peter (Hrsg.): Veranstaltungen zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, 2016: Plenarsitzung in der Rheinhessen-Fachklinik Alzey, Ausstellung im Landtag Rheinland-Pfalz und der Gedenkstätte KZ Osthofen, Mainz 2017 (= Schriftenreihe des Landtags Rheinland-Pfalz, Heft 66).

Hinz-Wessels, Annette: Tiergartenstraße 4. Schaltzentrale der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, Berlin 2015.

Israelitische Religionsgesellschaft Mainz (Hrsg.): Zur Geschichte der Unterrichtsanstalt der Israelitischen Religionsgesellschaft zu Mainz. Festschrift anlässlich ihres 75jährigen Bestehens 1859-1934, Mainz 1935, S. 41 (Klassenlisten nach 1908 sind nicht überliefert).

Kneuker, Gerhard/ Steglich, Wulf: Begegnungen mit der Euthanasie in Hadamar, Rehburg-Loccum 2016.

Osterloh, Jörg/ Schulte, Jan Erik (Hrsg.): „Euthanasie“ und Holocaust. Kontinuitäten, Kausalitäten, Parallelitäten, Paderborn 2021 (= Schriftenreihe der Gedenkstätte Hadamar, Bd. 1).

Polter, Lars: Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Erinnern und Erzählen. Biografische Interviews mit Betroffenen und Angehörigen, Münster u. a. 2020 (= Studien zur Volkskunde in Thüringen, Bd. 10).

Renate Knigge-Tesche: Isaak Zeitin, in: Knigge-Tesche, Renate/Brüchert, Hedwig (Hrsg.): Der Neue Jüdische Friedhof in Mainz. Biographische Skizzen zu Familien und Personen, die hier ihre Ruhstätte haben. Sonderheft der Mainzer Geschichtsblätter, Mainz 2013, S.307-311.

Westermann, Stefanie: Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 2010 (= Menschen und Kulturen, Bd. 7).



Foto: HdE

Der Stolperstein wurde am 06. Mai 2022 in der Margaretengasse 1 verlegt.

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