Familie Reiling


Das Ehepaar Hedwig und Isidor Reiling

Image 1 of 2

© Archiv Akademie der Künste Berlin / Anne Radvanyi, Berlin


Hedwig Reiling, geb. Fuld

  • Geboren am 21. Februar 1880 in Frankfurt am Main als Hedwig Fuld
  • Ermordet in Piaski, am 30. März 1942 nach Piaski deportiert

Piaski

In der polnischen Stadt Piaski, die durch die Besetzung Polens im sogenannten ‚Generalgouvernement‘ lag, wurde 1940 ein jüdisches Getto errichtet. Ab 1942 wurden in Piaski inhaftierte Personen auch in das polnische Vernichtungslager Belzec deportiert. Am 20. März 1942 erfolgte die erste große Deportation von Mainzer Jüdinnen*Juden aus der Stadt. Nachdem die betroffenen Personen in der Turnhalle der Feldbergschule von den Nationalsozialisten gesammelt wurden, brachte man sie zum Güterbahnhof in Mombach und von hier aus über die Großsammelstelle in Darmstadt nach Piaski. Dieser Transport umfasste insgesamt 1.000 Jüdinnen*Juden, die in der Rhein-Main Region wohnten. Aus Mainz wurden insgesamt 467 Mainzer Jüdinnen*Juden deportiert. Nach der Ankunft in Piaski gelangten noch einige Briefe und Postkarten der Deportierten zu ihren Familien nach Mainz. Alle deportierten Mainzer*innen aus diesem Transport wurden ermordet. Diejenigen, die das Lager Piaski einige Monate lang überlebten, wurden erneut deportiert. Ziel waren die beiden polnischen Vernichtungslager Belzec und Sobibor. Auch die Mutter von Anna Seghers, Hedwig Reiling, wurde mit dem ersten Transport Mainzer Jüdinnen*Juden am 20. März 1942 nach Piaski deportiert.


Hedwig Reiling, geborene Fuld, stammte aus der angesehenen und weit verzweigten jüdischen Frankfurter Kaufmannsfamilie von Salomon Fuld und seiner Frau Helene, einer Schwester des international tätigen Antiquitätenhändlers Julius Goldschmidt, der Filialen in Berlin, Paris und New York unterhielt. Sie heiratete Isidor Reiling (1868–1940), der zusammen mit seinem älteren Bruder Hermann eine ebenfalls international erfolgreiche Kunst- und Antiquitätenhandlung am Flachsmarkt 2 in Mainz betrieb.

Schon kurz nach der Geburt ihrer Tochter Netty (später bekannt unter ihrem Schriftstellernahmen Anna Seghers) am 19. November 1900 zog die Familie Reiling aus der Parcusstraße in die vornehme Wohngegend der Kaiserstraße um und bewohnte dort zunächst eine großzügige Wohnung im 2. Stock des Hauses 34 1/10. Anfang des Jahres 1933 zog die Familie Isidor und Hedwig Reiling in eine neue Wohnung – ebenfalls noch in bester Wohnlage – an den Fischtorplatz 23/Ecke Uferstraße, im ersten Stock.

Nach dem Novemberpogrom vom 9. auf den 10. November 1938 mussten die Reilings ihre eigene Wohnung verlassen und wurden in einem sogenannten ‚Judenhaus’ in der Taunusstraße 31 mit anderen Familien auf engstem Raum zusammengepfercht. Im März 1940 wurde das Antiquitätengeschäft der Reilings ‚zwangsarisiert’, wenige Tage später starb Isidor Reiling an einem Schlaganfall.

Deportationsliste vom 20. März 1942; unter Nummer 856 Hedwig Reiling, geb. Fuld (Quelle: StadtA Mainz, NL Oppenheim, Nr. 51, 21 c).

Hedwig Reilings Deportation begann bereits am 20. März 1942. Auf der Liste der rund 1.000 hessischen Jüdinnen*Juden, die für den Transport ins Ghetto Piaski, im Distrikt Lublin, des sogenannten ‚Generalgouvernements’, bestimmt waren, finden sich auch die Namen von 450 Mainzer*innen. Zu ihnen gehörten mit der Nummer 856 die Mutter von Anna Seghers und mit der Nummer 881 Johanna Sichel, Annas ehemalige Lehrerin.

Am 30. März 1942 traf Hedwig Reiling in Piaski ein, wo sich ihre Spur ohne ein weiteres Lebenszeichen verliert.

In ihrer autobiografisch geprägten Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ (1944), mit der die Autorin Anna Seghers den Verlust ihres Gedächtnisses nach einem schweren Unfall verarbeitet und sich an ihre Jugend in Mainz erinnert, hat sie zugleich ihrer Mutter Hedwig Reiling, von deren Tod sie im Exil in Mexiko erfahren hatte, und ihrer Heimatstadt Mainz ein unvergängliches literarisches Denkmal gesetzt.



Foto: HdE

Verfasser: Hans Berkessel

Redaktionelle Bearbeitung: HdE



Literaturhinweise:

Anna Seghers Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Carola Hilmes u. Ilse Nagelschmidt, Berlin 2020.

Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e. V., Bd. 1, S. 1992 ff. [zuletzt: 28/2020].

Berkessel, Hans: Weltliteratur aus Rheinhessen. Zur Erinnerung an die Schriftstellerin Anna Seghers und ihre Werke, in: Mainzer Vierteljahreshefte für Geschichte, Kultur, Politik, Wirtschaft (2017), Heft 2, S. 74–78.

Bock, Sigrid: Der Weg führt nach St. Barbara: Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers. Berlin 2008.

Sternburg, Wilhelm von: Anna Seghers. Ein biografischer Essay. (Köpfe der Region, Bd. 1), Ingelheim 2010.

Zehmer, Kerstin: Familie Reiling, in: Brüchert, Hedwig & Knigge-Tesche, Renate (Hrsg.): Der neue jüdische Friedhof in Mainz (Sonderheft der Mainzer Geschichtsblätter im Auftrag des Vereins für Sozialgeschichte Mainz e. V.), Mainz 2013, S. 226–235.



Foto: HdE

Der Stolperstein wurde am 29. August 2011 am Fischtorplatz 23 verlegt.

Kommentare sind geschlossen.