Kurzbiografie:
- geboren am 28. März 1884 in Mainz
- 1944 nach Theresienstadt deportiert
- 1945 aus Theresienstadt befreit
- verstorben am 5. Januar 1955 in Wambach (Rheingau-Taunus-Kreis/Hessen)
Das Ghetto und Konzentrationslager Theresienstadt
Die alte Festungsanlage Theresienstadt (Terezín) wurde im Juni 1940 als Polizeigefängnis der Prager Geheimen Staatspolizei genutzt, ehe sie im September 1941 in ein Ghetto umgewandelt wurde. Dieses Ghetto wurde als Konzentrations- und Durchgangslager für insgesamt über 140.000 jüdische Menschen genutzt. Das KZ Theresienstadt hat im nationalsozialistischen Lagersystem eine gewisse Sonderstellung. Wurde es durch die Nationalsozialisten doch als eine Art Vorzeigelager dargestellt. So drehten sie dort noch 1944 einen Propagandafilm mit dem Titel „Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“, der zumeist unter dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ bekannt ist. Darin wurde Theresienstadt als Altersdomizil präsentiert, in dem gerade alte Jüdinnen*Juden im Krankheitsfall Pflege erhielten. Besonders zynisch war, dass die Menschen vor ihrer Deportation sogenannte ‚Heimeinkaufsverträge‘ abschließen mussten. Damit entzogen die Nationalsozialisten den jüdischen Menschen ihr letztes Vermögen und suggerierten zugleich, dass der bevorstehende Transport keine Deportation, sondern eine ‚Umsiedlung‘ sei.
Die nach Theresienstadt Deportierten fanden dort jedoch kein Vorzeigelager vor, sondern vielmehr menschenunwürdige, unzumutbare Bedingungen in Massenunterkünften und unzureichender Ernährung. Das Lager, das unter dem Kommando der SS stand, wurde im Juni 1944 von einer Delegation des Internationalen Roten Kreuzes besucht, wofür man zu Propagandazwecken spezielle Cafés, Geschäfte und eine Bank errichtete. Auch Kindergärten und Grünanlagen wurden zu diesem Zweck geschaffen; Kulturveranstaltungen wie Konzerte aufgeführt. Um zudem den Eindruck einer Überbevölkerung zu verhindern, wurden in den Wochen vor dem Besuch viele Menschen deportiert, unter anderem in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz.
Aus Mainz wurden am 27. September 1942 461 Menschen über Darmstadt nach Theresienstadt deportiert; am 10. Februar 1943 folgten nochmals 18 und am 10. Januar 1944 zwei Mainzer*innen.
Über 30.000 der nach Theresienstadt deportierten Menschen starben an den menschenunwürdigen Bedingungen in diesem Lager, über 70.000 wurden in Vernichtungslager deportiert und dort ermordet.
Im April 1945 übernahm für etwa zwei Wochen das Internationale Rote Kreuz die Verantwortung für Theresienstadt, ehe sie diese am 9. Mai 1945 an die Rote Armee übergab. Auch nach der Befreiung Theresienstadts starben hier noch viele der ehemaligen Häftlinge an den Folgen der Unterversorgung und an Seuchen, einige mussten aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes bis zum 17. August 1945 in Theresienstadt bleiben, ehe sie in ihre Heimat zurückkehren konnten.
In der deutsch-jüdischen Exilzeitung „Aufbau“, die seit 1934 in New York erschien, wurde am 26. Oktober 1945 eine Liste mit Rückkehrern aus Theresienstadt nach Mainz und Rheinhessen abgedruckt. Unter den 25 namentlich genannten Überlebenden befanden sich auch Alice Stahn, geborene Friedmann, sowie das Ehepaar Waldmann mit ihrem vierjährigen Sohn Jona. Maximilian Waldmann übernahm im Oktober 1945 das Amt des ersten Vorsitzenden der wiedergegründeten Jüdischen Gemeinde in Mainz.
Alice Therese Friedmann wurde am 28. März 1884 geboren. Ihre Eltern, der Weinhändler Ignaz Simon Friedmann (israelitisch) und Josephine Friedmann, geborene Goldschmitt (israelitisch), lebten zu dieser Zeit am Gutenbergplatz 6 in Mainz. Deren Grabstätte befindet sich auf dem Neuen Jüdischen Friedhof, Untere Zahlbacher Straße in Mainz Feld 4, Reihe 1 Grab 3 (auf dem Grabstein wird die Familie Goldschmitt mit „dt“ geschrieben).
Nach anfänglichem Privatunterricht besuchte Alice Friedmann von 1891 bis 1900 zunächst die Vorschule, dann die Höhere Mädchenschule in Mainz. Die Familie wohnte zu dieser Zeit am Schillerplatz 3. Als gebürtige Mainzerin habe Alice Friedmann „breites Meenzerisch“ gesprochen. Die Zeugnisse 1894 bis 1896 zeigen eine sehr gute Schülerin – mit einer Gesamtnote 1 (man beachte: Betragen 1, Fleiß und Aufmerksamkeit 1, Deutsch 1).
Danach folgte für Alice ein Jahr in der sogenannten Selekta – Internat mit Tagesunterricht für Externe in Heidelberg, wo sie hauptsächlich Sprachen (Englisch, Französisch und Latein) lernte. Anschließend vertiefte sie in einem englischen Internat ihre Englisch- und Französischkenntnisse; außerdem besuchte sie Lateinkurse für Mädchen und Gastvorlesungen an der Universität. Sie bildete sich an der Frauenarbeitsschule in Mainz fort, ging zur Musikschule, an der sie Klavier- und Harmonielehre studierte.
Es folgte eine Ausbildung in Krankenpflege durch das Rote Kreuz im Städtischen Krankenhaus Mainz. Hier war sie auf allen Stationen – auch im Operationssaal – praktisch tätig und wurde auch theoretisch geschult (6 Monats-Kurs mit Examen 1902).
Bald darauf lernte sie den Zahnarzt Dr. Otto Maximilian Stahn kennen, den sie am 30. Juni 1906 in Mainz heiratete. Nach der Eheschließung arbeitete sie bei ihm bis 1919 als Praxishilfe.
Dr. Otto Maximilian Stahn entstammte einer Mainzer Zahnarzt-Familie. Der Vater war hier schon Zahnarzt, ebenso einige Brüder. Einer dieser Brüder, Rudolf Theodor August Stahn heiratete Alices jüngere Schwester Nelly (30. Oktober 1885–23. November 1941). Am 26. Januar 1908 wurde Alices und Ottos erstes Kind, Heinz Otto Stahn, geboren (er studierte später Medizin), das zweite Kind, die Tochter Margot Maria Therese, folgte am 14. März 1919 (sie besuchte später als Vorschule die Privatschule des Fräulein Goertz, danach das Lyzeum der Englischen Fräulein und die Maria-Ward-Schule, wo sie das Abitur ablegte).
Das Leben der Familie Stahn war sorglos. Die Zahnarztpraxis hatte regen Zulauf, Dr. Stahn war ein gefragter Arzt. Man machte Familienausflüge im „Adler“, besuchte Theater und Konzerte; Ausritte waren beliebt; Otto malte Bilder zur Entspannung. Im Jahr 1910 zog die kleine Familie in das 1904 errichtete Haus in der Bauhofstraße 6. Alice Stahn führte ein gastliches Haus und hatte stets hilfreiches Verständnis für Notleidende. Im Haushalt waren Dienstmädchen beschäftigt, der Tisch wurde mit Tafelsilber, Damasttischdecken und Servietten mit Monogramm gedeckt.
Die Mutter Alice Stahn mit dem Sohn Heinz Otto vor dem Haus in der Bauhofstraße 6
Im Ersten Weltkrieg kämpfte ihr Ehemann Otto an der Front und wurde mit dem Eisernen Kreuz II. und I. Klasse, dem Braunschweigischen Orden II. und I. Klasse sowie dem Hessischen Orden II. und I. Klasse ausgezeichnet und zum Hauptmann befördert.
Alice Stahn war 1915 bis 1918 Leiterin einer großen Volksküche in Mainz. Für diese Tätigkeit wurde sie mit der Roter-Kreuz-Medaille und dem Hessischen Kriegs-Ehrenzeichen ausgezeichnet
Nach Kriegsende florierte Vater Ottos Zahnarztpraxis wieder. Die Kinder Heinz und Margot wuchsen also in guten Verhältnissen heran, man hatte keine finanziellen Sorgen.
Dies änderte sich mit einem Tag im März 1927, einem Tag vor Alices 43. Geburtstag. Bei einer Autofahrt nach Wiesbaden kollidierte Otto Stahn mit einer Straßenbahn und starb.
Kollegen von Otto regten Alice dazu an, ein Institut für medizinisch elektrische Behandlungen, hauptsächlich Höhensonne und Diathermie, aber auch elektrische Massagen in der Bauhofstraße 6 zu eröffnen. Die Mainzer Ärzteschaft unterstützte die Witwe und überwies ihre jungen Patient*innen zu ihr – man wusste, dass sie von Alice Stahn gut und vorsichtig behandelt wurden. Die Kinder wurden von ihren Müttern oder Erzieherinnen begleitet. Die Praxis war stark frequentiert, sodass Alice gute Einnahmen erzielte. Damals gab es in Mainz außer dem 1903 von Dr. Eduard Frank gegründeten Neubrunnenbad, in dem die Krankenkassen ihre Patient*innen behandeln ließen, kaum ein anderes Institut, das derartige Therapien anbot. Der übrige Teil des Hauses war gut vermietet, und so konnte Alice Stahn ihrem Sohn Heinz das Medizinstudium und Tochter Margot eine sehr gute Schulbildung finanzieren.
Das änderte sich kurz nach der ‚Machtübernahme‘ durch die Nationalsozialisten. Am 1. April 1933 musste Alice die Praxis schließen, die Kassenzulassung war ihr bereits entzogen worden. Von da an lebte die Familie nur noch von den Mieteinkünften.
In den folgenden Jahren nahmen die Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung immer weiter zu. Alice Stahn musste Denunziationen erleiden. Um das Haus der Familie vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu retten, ließ sie es 1938 notariell auf ihre Tochter Margot überschreiben. Bei einem Bombenangriff 1942 brannte das Haus, konnte jedoch noch gerettet werden (die beiden Frauen, Alice und Margot hatten eigenhändig Mobiliar, sogar Schränke, aus den Flammen auf die Straße getragen). Doch im Februar 1945 wurde es bei einem Luftangriff völlig zerstört.
Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung wurde Alice Stahn vom 8. bis 29. September 1943 in Mainz in ‚Schutzhaft‘ genommen. Mit dem Transport 2-XVII/3 wurde sie am 10. Januar 1944 über Darmstadt ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.
In den Akten des KZ Theresienstadt ist vermerkt, dass sie einen Prominenten-Status im Lager innehatte. Dies bedeutete, dass sie bevorzugt behandelt werden sollte. Dies lässt sich vermutlich darauf zurückführen, dass ihr nicht-jüdischer Ehemann im Ersten Weltkrieg als Frontsoldat gedient hatte und ausgezeichnet worden war. Auch die Beschäftigungen, zu denen sie im Lager eingeteilt wurde, sind dokumentiert: sitzende Arbeit, als Pflegerin, als Hausdienst, als administrative Kraft in Post und Verkehr/Art der Arbeit: Paketpost.
Die Karte aus der originalen Kartei der Juden aus dem Ghetto Theresienstadt enthält einen handschriftlichen Vermerk; „abgereist nach Mainz 9/7 45“ – eine Registrierungs-/Entlassungskarte des „Czechoslovak Repatriation Office“ nennt als Datum den 14. Juni 1945. Wann und wie Alice Stahn zurück nach Mainz gekommen ist, ist jedoch unklar. Zunächst wohnte sie wohl im Stiftswingert 19, in dem Haus, in dem auch Michel Oppenheim mit seiner Frau nach dem Krieg lebte. Es ist anzunehmen, dass Oppenheim – der Alice Stahn aus der früheren gutbürgerlichen Gesellschaft in Mainz kannte – sie dort zunächst unterbrachte, damit sie eine Zuzugsgenehmigung erhalten konnte.
Kennkarte Alice Therese Stahns
Zurück in Mainz erteilte der Oberbürgermeister der Stadt am 12. Juli 1945 die „Zuzuggenehmigung für die jüdische KZ-Insassin Frau Alice Stahn geb. Friedmann, wohnhaft in Mainz, Am Stiftswingert 19. Der Obengenannten wird hiermit die Zuzugsgenehmigung nach Mainz erteilt…. Lebensmittel – Milch Eier Kartoffelkarten für die Zeit vom 9.7.45 bis 22.7.45 bzw. bis zum Ablauf auszugeben….“
Alice Stahn musste einige Male im Nachkriegs-Mainz umziehen, bis man ihr schließlich eine kleine Wohnung in Wambach, heute ein Ortsteil der Gemeinde Schlangenbad im Rheingau-Taunus-Kreis/Hessen, zuteilte. Schließlich wurde sie als rassisch Verfolgte anerkannt. Um eine „Wiedergutmachungsentschädigung“ in Form einer angemessenen Rente zu erlangen, musste sie dennoch lange und erbittert mit den Behörden ringen.
Bis zu ihrem Lebensende vermisste sie ihre Freunde in Mainz. Sie starb am 5. Januar 1955 in Wambach und wurde auf dem Hauptfriedhof in Mainz im Familiengrab „Familie Stahn“ beigesetzt (Grabfeld 50, Reihe 01, Stelle 04-05). In der Kondolenzliste finden sich unter anderem Konsul E. A. Bamberger sowie Regierungsrat Oppenheim und Frau.
Auch ihre Kinder überlebten die Zeit des Nationalsozialismus. Tochter Margot wanderte 1952 mit ihrem Ehemann in die USA aus. Im März 1963 verkaufte sie das Trümmergrundstück Bauhofstraße 6, das jahrelang brach gelegen hatte, an die Stadt Mainz. Margot Stahn starb am 22. Dezember 1988 in New York.
Der Sohn Heinz Otto studierte in Bonn, Kiel, Berlin und Köln Medizin und legte 1933 seine ärztliche Staatsprüfung in Köln ab. Aufgrund der antijüdischen Gesetze der Nationalsozialisten konnte er jedoch nicht promovieren und die Approbation wurde ihm verweigert, sodass er den Arztberuf nicht ausüben durfte. Die Approbation erhielt er erst im Sommer 1945. 1967 wurde Heinz Otto Stahn im Familiengrab in Mainz beigesetzt.
Verfasserin: Andrea Stahn
Redaktionelle Bearbeitung: HdE
Literaturhinweise:
Apel, Linde: Das Ghetto Theresienstadt, in: Deutsches Historisches Museum Berlin/Lebendiges Museum Online, <URL: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/voelkermord/ghetto-theresienstadt.html> [aufgerufen am 14.01.2021].
Adler, H. G.: Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft 1941–1945, Göttingen 2005.
Benz, Wolfgang: Theresienstadt: Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung, München 2013.
Brüchert, Hedwig: Nationalsozialistischer Rassenwahn. Entrechtung, Verschleppung und Ermordung der Mainzer Juden, Sinti und geistig behinderten Menschen, in: Stadt Mainz (Hrsg.): Der Nationalsozialismus in Mainz 1933–45. Terror und Alltag (Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz, Bd 36), Mainz 2008, S. 79–92.
Trimmel, Gerald: „Gefilmte Lügen“. Der Theresienstadt-Propagandafilm von 1944 im Kontext der NS-Filmpropaganda, in: filmarchiv (2003), H. 7, S. 42–47.
Quellen und Fotos:
- Wiedergutmachungsakte Alice Stahn, geb. Friedmann
- Wiedergutmachungsakte Heinz Otto Stahn
- Stadtarchiv Mainz
- Landesarchiv Berlin
- PT Památník Terezín
- Jüdischer Friedhof Berlin-Weissensee
- Nachlass Margot Teske, geb. Stahn
- Dr. Hedwig Brüchert
- Andrea Stahn
Der Stolperstein wurde am 15. Oktober 2015 in der Bauhofstraße 6 verlegt.