Der Wilhelminische Staat umfasst die Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. im Deutschen Kaiserreich, das 1871 gegründet wurde. Kaiser Wilhelm II. regierte von 1888 bis 1918, und das Jahr seines Regierungsantritts, 1888, wird auch als ‚Dreikaiserjahr‘ bezeichnet.
Kaiser Wilhelm I. verstarb am 9. März 1888 und wurde von Kaiser Friedrich III. abgelöst, der wiederrum nur einige Zeit nach Regierungsantritt ebenfalls, am 15. Juni 1888, verstarb. Der dritte Kaiser dieses ‚Dreikaiserjahres’, Wilhelm II., trat daraufhin die Nachfolge an. 1890 kam es unter anderem aufgrund der zusammenbrechenden innenpolitischen Machtbasis des Reichskanzlers Bismarck zu dessen Rücktritt.
Aus dem einstig zersplitterten Deutschland war mit der Reichsgründung 1871 ein einheitlicher Nationalstaat geworden, allerdings nicht mit den in der Revolution von 1848 geforderten Freiheitsrechten und einer demokratischen Verfassung. Das auch von Seiten des preußischen Obrigkeitsstaates geförderte Nationalbewusstsein manifestierte sich auch in dem Entstehen von diversen Vereinen der sogenannten ‚neuen Rechten’, die meist stark antisemitisch geprägt waren. Darüber hinaus entstand im Kaiserreich aufgrund des wachsenden Nationalismus auch sukzessive ein starker Militarismus, der viele Menschen begeisterte. 1913 wurde mit der Enthüllung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig an die vor 100 Jahren erfolgreich mit 600.000 Soldaten gewonnene Schlacht gegen Napoléon erinnert. Neben der Erinnerung an die Völkerschlacht von Leipzig waren es unter anderem auch die Einigungskriege von 1864, 1866 und 1870/71, die ebenfalls den deutschen Militarismus in seiner Extension massiv förderten und prägten. Der weit verbreitete Stolz auf diese militärischen Erfolge spiegelte sich auch im Bildungsbereich wider. Die siegreichen Schlachten wurden so nämlich bereits frühzeitig im Schulunterricht gelernt und mussten zusammen mit anderen nationalen Daten jederzeit aufgesagt werden können. Ab den 1890er-Jahren gab es eine zweijährige verpflichtende Dienstzeit für junge Männer im Kaiserreich, wobei die Möglichkeit bestand, dass Gymnasiasten ihren Dienst in der Armee auf ein Jahr reduzieren konnten, falls sie selbst für Versorgung und Ausrüstung aufkommen konnten. Zusätzlich zu diesem Privileg hatten die jungen Männer auch noch die Möglichkeit, zum Reserveoffizier befördert zu werden. Viele Juden ließen sich vor dem Ersten Weltkrieg von dem deutschen Patriotismus anstecken, wohl unter anderem auch deshalb, um der Diskriminierung und dem immer mehr zunehmenden Antisemitismus entgegenzuwirken. Auch der 1891 geborene Otto Hirsch meldete sich freiwillig zur Teilnahme am Ersten Weltkrieg und wurde 1917 für seine Tapferkeit ausgezeichnet, was ihn unter der NS-Diktatur am Ende jedoch nicht davor bewahrte, als Jude diskriminiert und schließlich deportiert zu werden. Das Ziel vieler Juden, durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg aus patriotischen Motiven mehr Anerkennung und weniger Diskriminierung zu erfahren, war spätestens nach dem Ersten Weltkrieg gescheitert.
Übersteigerter Nationalismus und Militarismus fanden im Wilhelminischen Staat Anhänger in allen Bevölkerungsschichten und zeigten sich auch im alltäglichen öffentlichen Leben. Insbesondere an nationalen Festen oder Umzügen, nahmen zahlreiche Kriegervereine, die die Erinnerung an die siegreichen deutschen Schlachten wachhielten, teil. Unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 zählten etwa 32.000 Kriegervereine circa 2,8 Millionen Mitglieder, darunter auch viele Reservisten. Die Kriegervereine setzten sich vor allem aus Mitgliedern aus dem Kleinbürgertum zusammen, wohingegen lediglich der Adel Zugang zu den höchsten Führungspositionen hatte. Die Sozialdemokratie, die eine konträre Position zu dem preußischen Militarismus einnahm, wurde nicht nur vielerorts von den Organisationen ausgeschlossen, sondern von diesen auch politisch bekämpft. Diese Strategie hatte jedoch eher in Preußen Erfolg, in den süddeutschen Staaten des Kaiserreichs standen oftmals katholisch geprägte Regionen dem Ausleben des preußischen Militarismus äußerst kritisch gegenüber.
Literaturhinweise:
Freytag, Nils: Das Wilhelminische Kaiserreich 1890–1914. Paderborn u. a. 2018.
Mommsen, Wolfgang J.: Die latente Krise des Wilhelminischen Reiches. Staat und Gesellschaft in Deutschland 1890-1914, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift (MGM), 15 (Juni 1974), H. 1, S. 7–28.
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